Für Bündnis 90/Die Grünen in Steglitz-Zehlendorf stellt sich Nina Stahr am 22. September als Direktkandidatin zur Wahl. Die 30-Jährige ist seit 2006 bei den Grünen aktiv, seit 2008 auch im Kreisvorstand, dessen Vorsitz sie zweitweise inne hatte. Seit 2009 sitzt sie in der Bezirksverordnetenversammlung. Stahr ist Referendarin an einer Integrierten Sekundarschule und einem Oberstufenzentrum in Neukölln.

StadtrandNachrichten: Frau Stahr,  Sie sitzen seit zwei Jahren für die Grünen in der Bezirksverordnetenversammlung Steglitz-Zehlendorf. Warum zieht es Sie jetzt in die Bundespolitik?

Nina Stahr: Weil die Themen, die ich besetze – das ist zum einen Bildung, zum anderen Jugend- und Familienpolitik – bundespolitische Themen sind. Da kann man im Bezirk zwar an kleinen Rädchen drehen, aber die wirklich wichtigen Entscheidungen werden beim Bund gefällt.

SN: Bei den Grünen denkt man ja in erster Linie an Themen wie Umweltschutz und gesunde Ernährung. Warum setzen Sie andere Schwerpunkte?

Stahr: Das stimmt insofern, dass wir mit diesen Themen angefangen haben. Wir sind zwar im Verhältnis zu anderen Parteien noch jung, aber auch alt genug, um uns weiterentwickelt zu haben. Wir besetzen auch Themen wie soziale Gerechtigkeit, denn wir brauchen eine Politik für alle Gesellschaftsbereiche in Deutschland. Und wir kommen ja nicht nur aus der Umweltbewegung, wir sind auch „Bündnis 90“. Das ist ein Erbe, das mir sehr wichtig ist. Ich stehe auch für Bürgerbeteiligung, dafür dass Jugendliche besser beteiligt werden. Deshalb würde ich nicht sagen, dass soziale Gerechtigkeit, Bildung, Familien nicht auch Grüne-Themen sind.

SN: Dann kommen wir doch gleich zur Familienpolitik. Eine aktuelle Studie zeigt, dass die Instrumente der Bundesregierung nicht greifen, sogar kontraproduktiv sind. Was wollen und was können Sie anders machen?

Stahr: Wir wollen die vielen verschiedenen Fördermaßnahmen, die es gibt, zusammenfassen zur Kindergrundsicherung. Das führt dann nicht mehr dazu, dass Menschen, die viel verdienen – etwa weil sie Steuerfreibeträge geltend machen können –, mehr Geld für ihre Kinder bekommen, als Menschen, die am Existenzminimum leben. Das ist nicht fair. Wir möchten, dass alle Kinder gleich viel bekommen.

SN: Können Sie näher erläutern, was eine Kindergrundsicherung ist.

Stahr: Jedes Kind – egal ob die Eltern ALG II-Empfänger sind oder Hochschulprofessoren – bekommt einen Grundbetrag von sagen wir zirka 385 Euro – den genauen Betrag müssten wir dann errechnen – natürlich über die Eltern. Das Kindergeld ist nicht genug, um ein Kind zu ernähren, man braucht mindestens diese 385 Euro.

SN: Wie soll das finanziert werden?

Stahr: Unter anderem dadurch, dass wir das Ehegattensplitting abschmelzen wollen. Dadurch sollen Familien besser gefördert werden und nicht nur Ehepaare. Es ist nicht einzusehen, dass ein Ehepaar einen solch massiven Steuervorteil haben soll. Es ist okay, dass sie einen Steuervorteil haben, denn sie übernehmen Verantwortung füreinander. Aber dieser massive Steuervorteil, den sie haben, auch wenn sie keine Kinder haben, ist in meinen Augen nicht zu rechtfertigen. Deshalb wollen wir das abschmelzen. Das Geld soll dann in die Kindergrundsicherung fließen, aber auch in den Kita-Ausbau und den Ausbau von Ganztagsschulen. Denn das hat auch die gleiche Studie ausgesagt: Familienförderung, die ankommt, ist Kita-Ausbau.

SN: Darüber wird ja derzeit auch viel diskutiert: Kita-Ausbau, Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz für Kinder unter drei Jahre, das Betreuungsgeld für Mütter, die ihre Kinder zu Hause betreuen. Was halten Sie von diesen Instrumenten?

Stahr: Das Betreuungsgeld sind 150 Euro monatlich. Es ist lächerlich zu sagen, das sei ein Ausgleich dafür, dass die Mutter zu Hause bleibt. Das ist ein Bonus für die, die es sich ohnehin leisten können. Aber Mütter, die wenig Geld haben, müssen arbeiten gehen. Die haben überhaupt keine andere Möglichkeit. Umso wichtiger ist es, dass wir Kita-Plätze zur Verfügung stellen. So dass diese Eltern die Möglichkeit haben, arbeiten zu gehen und nicht arbeitslos werden und in Hartz IV rutschen. Bei vielen Hartz IV-Empfängerinnen, zum Beispiel alleinerziehenden Müttern, die davon besonders oft betroffen sind, ist es so, dass sie gern arbeiten gehen würden, aber keine Kinderbetreuung haben. Ich bin für Wahlfreiheit. Ich finde es wichtig, dass Mütter und Väter entscheiden können, ob sie ihr Kind zu Hause betreuen wollen, wie lange sie es zu Hause betreuen, ob sie es schon früh in eine Kita geben. Das Betreuungsgeld schafft diese Wahlfreiheit nicht.

SN: Stichwort Ganztagsschule. Sie sind für den Ausbau. Doch in solchen Einrichtungen stehen die Kinder den ganzen Tag unter Aufsicht von Erwachsenen. Es gibt keinen Freiraum, sich unbeobachtet zu bewegen, auch mal Blödsinn anzustellen. Schränkt das nicht die Entwicklung ein? Wo bleibt der Freiraum, auch mal alleine loszulaufen?

Stahr: Der muss genau dort gegeben werden. Es ist leider ein Trend in unserer Gesellschaft, dass die Kinder immer das Handy dabei haben, immer erreichbar sind für ihre Eltern. Wenn sie abends mal zu spät kommen, klingelt sofort das Telefon. Das hätte es bei mir nicht gegeben. Ich bin zu spät gekommen, dann hat es vielleicht auch Ärger gegeben, aber wir haben uns unsere Freiräume geschaffen. Das ist für Kinder heute gar nicht mehr möglich. Es ist wichtig, dass Kinder diese Freiräume haben, und ich bin mir sicher, dass das in einer guten Ganztagsschule auch möglich ist. Eine gute Ganztagsschule ist für mich nicht Unterricht von 8 bis 18 Uhr. Eine gute Ganztagsschule bedeutet, wir haben vormittags Unterricht, teilweise bis in den Nachmittag hinein – das kommt auf die Klassenstufe an, und nachmittags gibt es AGs oder Möglichkeiten für Kinder, wo sie sich selbst entfalten können. So dass Kinder die Schule auch als Lebensort erfahren, sich dort wohlfühlen und nicht hingehen, um ihre sechs Stunden abzusitzen und danach so schnell wie möglich nach Hause gehen. Das bedeutet aber auch, dass Erzieher in die Schule müssen, die sich außerhalb des Unterrichts um die Kinder kümmern. Damit auch klar wird: Das eine ist Unterricht und das andere ist Freizeit.

SN: Wenn wir nach Steglitz-Zehlendorf schauen, ist Schulpolitik dort derzeit ein heiß diskutiertes Thema, gerade vor dem Hintergrund des Einwohnerantrages von Lehrern und Eltern der Quentin-Blake- und der Biesalski-Schule, die einen Schulneubau fordern. Sie haben diesen Antrag ebenfalls unterschrieben. Andererseits sind Sie als Mitglied der BVV und als Schulausschussvorsitzende auch mitverantwotlich dafür, dass dort keine Schule geplant wurde. Wie erklären Sie die Diskrepanz?

Stahr: Ich habe diesen Antrag unterschrieben, weil ich wollte, dass dieses Thema noch einmal auf den Tisch kommt. Mir zumindest war nicht klar, warum dort nicht gebaut wird, das geht auch vielen anderen so – vor allem den Eltern. Da gibt es noch Diskussionen. Dass ich diesen Antrag unterschrieben habe, zeigt aber auch ganz deutlich, wofür ich mich stark mache. Ich setze mich dafür ein, dass dort gebaut wird. Wenn ich merke, dass das nicht notwendig ist, lasse ich mich auch vom Gegenteil überzeugen. Das Problem ist einfach, dass die Prognosezahlen, die vorliegen, meiner Meinung nach nicht wirklich belastbar sind. Deshalb müssen wir hier noch mal genau prüfen, welche Möglichkeiten wir haben. Der Senat hat deutlich gemacht, dass sie es nicht für nötig halten, hier Maßnahmen zu ergreifen, weil nach ihren Berechnungen nicht mal ein weiterer Klassenzug hinzu kommen würde. Dass dieses Gebiet aber unter Umständen für Familien äußerst attraktiv ist und überdurchschnittlich viele Kinder einziehen, wird dabei nicht bedacht. Deshalb müssen wir hier weiter kämpfen. Aber selbst wenn wir uns entscheiden, dort zu bauen, würde erst zirka 2024 ein Gebäude stehen, das dauert ja alles. Deshalb ist das ein Problem, das ich nicht nur akut für die Quentin-Blake sehe, sondern weil dort in der Umgebung in den nächsten Jahren auch weiterhin viel gebaut wird. Für das, was da noch nachkommt, müssen wir jetzt die Grundlagen legen.

SN: Statt an der Truman-Plaza soll es nun eine neue Schule im Schweitzer Viertel entstehen. Was halten Sie davon?

Stahr: Das Schulgebäude im Schweitzer Viertel existiert ja schon. Da braucht es nur minimale Umbauarbeiten, das würde uns nicht die Welt kosten. Außerdem muss im Schweitzer Viertel dringend was passieren, deshalb bin ich froh über diese Entwicklung. Aber das eine schließt das andere nicht aus, denn wir haben einen massiven Zuzug von Familien mit Kindern – worüber ich mich sehr freue. Aber dann müssen wir auch die Infrastruktur dafür zur Verfügung stellen. Dasselbe werden wir haben, wenn in Lichterfelde Süd Parks Range bebaut wird. Da sind wir in der Planung gerade dabei zu schauen, was wir dort an Schulen brauchen.

SN: Sie sind für mehr Bürgerbeteiligung, auch für jüngere Menschen. Sind Sie für Wahlen ab 16?

Stahr: Ja, ganz simpel Ja.

SN: Trauen Sie das den Jugendlichen schon zu?

Stahr: Das ist die entscheidende Frage: Warum trauen wir es Menschen zu, die nur ein wenig älter sind, sich aber überhaupt nicht für Politik interessieren, die rechtsextrem wählen, weil sie auf Propaganda hereinfallen? Aber Jugendlichen, die 16 sind, die sich massiv für Politik interessieren, die Zeitung lesen – warum trauen wir es denen nicht zu? Die Entscheidungen, die wir jetzt fällen, wirken sich auf die Jugendlichen viel stärker aus als auf uns, denn wir leben nicht mehr so lange. Deshalb finde ich es richtig, dass die, die in dieser Welt, die wir gerade schaffen, leben müssen, auch ein Recht dazu haben, sich zu beteiligen. Das ist nicht nur das Wahlrecht ab 16, sondern auch Beteiligung von Kindern und Jugendlichen auf anderen Ebenen. Ich setzte mich dafür ein, dass wir bei der Bauplanung im Bezirk stärker die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen berücksichtigen. Es gibt an vielen Stellen Schrauben, an denen man drehen kann. Und das versuche ich.

SN: Sie sind bei Abgeordnetenwatch, stimmen auch dort für die Offenlegung von Nebeneinkünften. Was müssten Sie denn offenlegen?

Stahr (lacht): Das ist zur Zeit mein Referendarsgehalt, ich bin Studienreferendarin. Das sind etwas über 1.100 Euro plus etwa 110 Euro Familienzulage – da muss ich nicht viel offenlegen. Wir wollen diese Transparenz ja für Politiker, die das hauptberuflich machen. Wir in der BVV machen das als Ehrenamt, da ist klar, dass wir alle einen Hauptberuf haben. Wenn ich in den Bundestag gewählt werde, dann würde ich nichts nebenbei machen. Das Referendariat würde ich unterbrechen, dann bin ich hundertprozentig im Bundestag, denn wenn ich von Steuergeldern eine Vollzeitbezahlung bekomme, dann habe ich auch Vollzeitarbeit zu leisten.

SN: Das Wahlprogramm der Grünen, das derzeit in der Öffentlichkeit diskutiert wird, lässt sich auf den Veggie-Day verkürzen. Was halten Sie von diesem Vorschlag?

Stahr: In unserem Wahlprogramm steht, dass wir möchten, dass der Veggie-Day Standard wird. Das heißt nicht, dass wir das gesetzlich regeln wollen. Wir haben noch nicht genau ausformuliert, wie das umgesetzt werden soll. Wir wollen mit den Leuten, die es betrifft, mit Betreibern von Kantinen ins Gespräch kommen und fragen, wie man das umsetzen kann. Die meisten Menschen sagen tatsächlich, es würde ihnen nicht schaden, einen Tag in der Woche mal kein Fleisch zu essen. Ich glaube, wogegen sie sich wehren, ist, wenn sie dazu gezwungen werden würden. Ich halte das persönlich auch nicht für den richtigen Weg. Man muss die Menschen aufklären und ihnen selber die Entscheidung überlassen. Und die meisten sagen dann tatsächlich, dass das, was in der Massentierhaltung passiert, nicht in Ordnung ist. Da muss man gegensteuern. Früher hat man einmal in der Woche, am Sonntag, Fleisch gegessen. Das, was wir zurzeit machen, ist einfach ungesund. Ich halte den Veggie-Day für eine gute Idee, aber ich finde, er muss auch aus der Bevölkerung heraus kommen.

SN: Sind Sie Vegetarierin?

Stahr: Nicht ganz. Ich esse hin und wieder Fleisch, aber wenn, dann bio. Wir haben einen Neuland-Metzger um die Ecke, bei dem wir dann einkaufen. Wir essen sehr bewusst Fleisch.

(go)