Beim Namen „Jungfernstieg“ denkt doch jeder sofort an Hamburg.
Den Namen erhielt die Straße an der Binnenalster noch dem gutbürgerlichen Ritus, dass sonntags Familien ihre unverheirateten Töchter, die Jungfern, dort spazieren führten. Als Hamburger kannte der Bauunternehmer John Cornelius Booth, der um 1900 in der Lankwitzer Mozartstraße wohnte, natürlich die Straße und dürfte Johann Anton Wilhelm von Carstenn, den Gründer der Kolonie Lichterfelde-West, dazu inspiriert haben, die Straße hinter dem Bahnhof Lichterfelde-Ost ebenfalls „Jungfernstieg“ zu nennen.
Der von Carstenn finanzierte Bahnhof wurde am 20. September 1868 als Bahnhof „Lichterfelde“ eröffnet. Auf dem einen Bahnsteig hielten sowohl Fernverkehrs- als Vorortzüge. Als 1881 Werner von Siemens seine erste Straßenbahn baute, ließ er sie direkt vor dem Bahnhof enden. Nach dem Zusammenschluss der Gemeinden Lichterfelde und Gießendorf wurde aus dem Bahnhof die Station Groß-Lichterfelde, drei Jahre später wurde daraus dann Groß-Lichterfelde B. H., was die Lage an der Berlin-Anhaltischen Eisenbahn (Berlin – Halle) deutlich machen und Verwechslungen mit dem Bahnhof Groß-Lichterfelde B.M. – heute Lichterfelde West – verhindern sollte.
Das „Ost“ kam am 1. Januar 1899 dazu, gleichzeitig wurde ein neuer Bahnsteig ausschließlich für den Fernverkehr eingeweiht. Zwischen 1913 und 1916 wurde der Bahnhof hochgelegt und auf drei Bahnsteige mit je zwei Gleisen erweitert. Zudem wurde der Bahnhof nach Plänen von Karl Cornelius umgestaltet. So erhielt er ein mit Pilastern gegliedertes Empfangsgebäude mit einem Eingang an der Nordwestseite – hin zum Jungfernstieg. Es entstand ein Tunnel mit Oberlichtern, der an einem neoklassizistischen Portal an der Südostseite endete. Nur noch auf den S-Bahnsteigen zu sehen sind die hölzernen, nach innen geneigten Dächer auf Stahlkonstruktionen.
Seit 1929 verkehrt in Lichterfelde-Ost die S-Bahn, nachdem 1952 dort der Fernbahnverkehr stillgelegt wurde, ereilte in den 1980er Jahren auch den S-Bahn-Verkehr dieses Schicksal. Nach der Wiedervereinigung wurden S- und Fernbahnverkehr wieder aufgenommen.
Nur wenige Villen entlang der Straße künden von der Vergangenheit der Straße, die meisten überstanden den Zweiten Weltkrieg nicht, wurden durch Neubauten ersetzt. Dort wo jetzt ein Wohnhaus mit der Nummer 14 steht, stand am Ende des 19. Jahrhunderts ein Gesellschaftshaus, später ein Nervensanatorium; und wo einst das Restaurant A. Schäfer seine Gäste verwöhnte, steht heute ein Bio-Supermarkt. Ein paar Häuser weiter hat Nottkes – das Kieztheater seine Heimat. Seit November 2004 leben die Sängerin und Schauspielerin Katja Nottke und der Bühnenbildner sowie der Ton- und Lichttechniker Nikolai Praiß im Haus mit der Nummer 4d ihren Traum vom eigenen Theater.
Überlebt hat die Villa mit der Hausnummer 19, die Villa Folke Bernadotte. In dem Haus gründete der 21-jährige Wissenschaftler Manfred von Ardenne 1928 das Forschungslabor für Elektronenphysik, das er bis 1945 leitete. Er arbeitet dort unter anderem an der Entwicklung des Fernsehens, des Rasterelektronenmikroskops, an der Radarentwicklung und betrieb Atomforschungen. Im Keller der 1885/86 errichteten Villa kündet heute noch ein rund acht Meter hoher Keller von den Forschungen Ardennes.
Heute wird in dem Raum geklettert. Die Kinder-, Jugend- und Familienfreizeitstätte Villa Folke Bernadotte hat dort für ihre Besucher eine Kletterwand gebaut. Die Freizeitstätte nutzt die drei Etagen der Villa, es gibt unter anderem einen Band- und einen Töpferrraum, ein Kinderspielzimmer, einen Gymnastik- und einen Theaterraum sowie ein PC-Kabinett. Auch im Garten der Villa Folke Bernadotte kann gespielt und in der Garage – ursprünglich eine Remise – gewerkelt werden.
Seit 2006 hat die Freizeitstätte in der Villa ihren Sitz. Vorher war sie unter anderem ein Jazz-Club für die amerikanischen Soldaten und ein Kindergarten. Das Baudenkmal wurde vom Bezirk Steglitz nach dem schwedischen UN-Gesandten Folke Bernadotte Graf von Wisborg benannt.
(go)
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