„In der letzten Zeit“ (2024) | Foto: Anja van Kampen

 

In der Petruskirche am Oberhofer Platz ist derzeit die Ausstellung „In der letzten Zeit“ mit Werken des Künstlers Wolfgang Sterrer zu sehen.

Zur Vernissage sprach Ulrike Meyer. Wir veröffentlichen die Laudatio im Wortlaut:

 

In der letzten Zeit

geschehen fast täglich Dinge

die ahnen lassen

Es kann

vielleicht wirklich

die letzte Zeit sein

Vielleicht aber

kommt es auf uns an

ob sie es ist

oder nicht

 

Diese eindringlichen Zeilen schrieb der Lyriker Erich Fried, die kurz vor seinem Tod 1988 in dem Gedichtband „Unverwundenes. Späte Gedichte“ veröffentlicht wurden. 1988, exakt 50 Jahre nach seiner Flucht, als er sich als verfolgter Jude 1938 in London vor den Schergen Hitlers in Sicherheit gebracht hatte. Von da an kämpfte er für den Rest seines Lebens gegen den Faschismus.

Die Zeilen von Fried mahnen die Nachwelt, mahnen uns als demokratieliebende und verantwortungsvolle Bürgerinnen und Bürger daran, immer wachsam zu sein. Sie erinnern uns, dass es an uns liegt, die Zeit, in der wir leben; die Zeit, die vor uns und der jungen Generation liegt, konstruktiv, zukunftsweisend und vor allem demokratisch zu gestalten.

Frieds mahnendes Gedicht ist heute aktueller denn je! Und für den Künstler Wolfgang Sterrer sind diese Worte die treibende Kraft für sein aktuelles kreatives Schaffen. So wundert es auch nicht, dass die Ausstellung, die wir heute in seiner Anwesenheit eröffnen, Frieds Zeilen „In der letzten Zeit“ als Titel tragen – ebenso wie eines von Wolfgang Sterrers wichtigsten Werken aus dem Jahr 2024.

Dem Lyriker Fried verpflichtet, präsentiert Wolfgang Sterrer zentral sein Bild „In der letzten Zeit“. Als Malgrund wählt Wolfgang Sterrer eine alte Schullandkarte, die Länder Europas sind fast nicht mehr zu erahnen. Die mit pastösen Schichten aus Acryl und Ölkreide bearbeitete Landkarte ist eine einzige Gefahrenzone: alarmierendes, grelles Rot beherrscht das Bild. Es umzingelt bedrohlich die zentrale Aussage, die von Wolfgang Sterrer mit der Hand geschriebene lyrische Warnung von Erich Fried auf schwarzem Grund. Es ist ein bedrohliches Schwarz, denn Schwarz ist ja auch eine politische Farbe, die in der Vergangenheit für den Faschismus stand und mittlerweile auch wieder steht. Eine Gefahr, die mittlerweile durch den erstarkten Rechtsradikalismus über unser aller Leben schwebt.

Ein weiteres Indiz für das kriselnde Europa ist die schwarz-gelbe, quer über das ganze Bild verlaufende Warnmarkierung, die jedoch ihre schützende Funktion verloren hat, denn sie liegt zerbrochen über den Ländern. Ungehindert können durch ihre Bruchstellen die Gefahren der Zeit die Länder überfluten.

Wolfgang Sterrer ist meiner Meinung nach ein durch und durch politischer Maler. Seine Kunst ist für ihn ein Ventil, um – wie er sagt – nicht kaputt zu gehen! Er wüsste nicht, was er ohne sein Malen machen würde, um die Themen der Zeit auszuhalten, denn „es passieren ständig dramatische Dinge“. Aber den Kopf in den Sand zu stecken, ist für ihn keine Lösung, „resignieren darf nicht sein“ – so seine Worte. Und so ist seine Kreativität nicht nur ein Ventil, sondern auch eine Möglichkeit, seine Resilienz zu stärken, seiner Angst zu begegnen – und nicht depressiv zu werden und zu warnen, dafür steht unter anderem Bild „Unruheland“. Seine Unruhe, seine Empfindungen und Ideen verarbeitet Wolfgang Sterrer schnell und spontan. Seine flirrende Anspannung entlädt sich auf seinem Malgrund mit einer Explosion aus Farben und Symbolik.

 

Der Maler Wolfgang Sterrer vor seinen Bildern „Problembewältigungsversuche“ (2024) und „Die Welt ist an Größenwahn erkrankt“ (2025) | Fotos: Anja van Kampen

 

Wolfgang Sterrer spricht zu uns mit einer bizarren, expressiv-gestischen Farb- und Formensprache. Mit jedem Pinselstrich wird seine Not, sich über die drängenden Themen mitzuteilen, fast körperlich spürbar. Seiner Unrast begegnet der Künstler, in dem er an zwei bis drei Bildern gleichzeitig arbeitet, denn er muss seine Idee unmittelbar festhalten, seiner Empfindung sofort Ausdruck verleihen.

 

„Rote Linien“ (2025) | Foto: Anja van Kampen

 

Bei dieser Arbeitsweise entstehen jedoch keine Serien. Wolfgang Sterrers Kompositionen sind immer in sich geschlossene Einzelarbeiten, farbstark, ohne konkrete Gegenständlichkeit.
Beispielsweise die sogenannten roten Linien: Ein Begriff, der in der Politik ständig neu definiert und inflationär verwendet wird, und der daher seine eigentliche Bedeutung verliert. Diese roten Linien durchziehen in Wolfgang Sterrers gleichnamigen Bild ständig unser Leben, überlagern und verknäulen sich, und schränken so unseren Bewegungsradius zunehmend ein.

 

„Aussichtsturm im Trüben“ (2025) | Foto: Anja van Kampen

 

Für den bedrohlichen Einfluss der globalen Politik auf unser Leben findet Wolfgang Sterrer ausdrucksstarke Erzählungen. Etwa das Bild „Aussichtsturm im Trüben“, in dem sich die Hoffnungen zu einem dunklen Turm aus Enttäuschungen stapeln.
Oder “Dunkelzeit“, welches das Bemühen des Malers darstellt, sich dem durch die Politik ausgelösten depressiven Sog entgegenzustemmen. Immer wieder leuchten daher wie Blitze kleine Sprengsel von Gelb als energetische Hoffnungsträger in dieser dunklen Zeit auf.

 

„Dunkelzeit“ (2025) | Foto: Anja van Kampen

 

Es geht bei Wolfgang Sterrer auch um das drängende Thema des Klimawandels. Dafür stehen die Bilder „Walddynamik“, „Wasserleben“ oder auch „Verlassen der Komfortzone“, in denen mit warnendem Rot auf die Ausbeutung der Erde hingewiesen wird und darauf, dass wir uns dieses Leben so nicht mehr lange leisten können.

Ausbeutung und Gier sind für Wolfgang Sterrer Merkmale unserer Zeit. Eindrucksvoll bringt er dies in seinem Bild „Zerschellt … oder die Gier des Menschen“ zum Ausdruck. Dieses Bild basiert auf dem Seilbahnunfall am Pfingstsonntag 2021 in den oberitalienischen Bergen. 14 Menschen stürzten in den Tod, weil aus Kostengründen die Wartungsarbeiten unterlassen wurden.

Es sind solche dramatischen Nachrichten des Tages, die den Maler Wolfgang Sterrer intensiv beschäftigen. Dazu gehört auch das Bild „Gewaltig“, in dem er dem vernichtenden Vulkanausbruch im Jahr 2020 auf den Philippinen gedenkt, bei dem über 580.000 Menschen ums Leben kamen.

Nur das Bild „Die Leichtigkeit danach“ hat eine ausdrücklich positive Aussage: Es geht um die wiedergewonnene Leichtigkeit des Lebens nach der Corona Pandemie. Mit den Farben Rot, Gelb und Orange signalisiert der Maler die wiedergefundene Lebensfreude, das Blau symbolisiert den von Sorgen befreiten Kopf.

 


„Schwindende Erinnerungen“ (2015) | Foto: Anja van Kampen

 

Seit mehr als 20 Jahren lebt der aus Österreich stammende Maler nun schon in Deutschland. So verwundert es nicht, dass er gegen das Vergessen an seine österreichische Heimat und deren Menschen ankämpft. Diesen Prozess des Vergessens hat er, ebenfalls auf einer alten Schullandkarte, 2015 in dem Bild „Schwindenden Erinnerungen“ festgehalten. Vielleicht sogar verzweifelt festgehalten? Denn mit wildem und unkontrolliertem Gestus dokumentiert der Maler Sterrer den Prozess. Von seiner Vergangenheit bleiben nur drei schwarze Gebilde, die massiv, aber unspezifisch sowohl für Österreichs Hügel als auch für drei wichtige Personen stehen können. Es sind verblassende Farbverschiebungen in Schwarz-Weiß, sie stehen für die sich auflösenden Erinnerungen einer vergangenen Zeit.

Aber die Bilder der Gegenwart mit ihren brennenden Themen gestaltet Wolfgang Sterrer dafür umso farbintensiver. Sie sollen Denkanstöße geben und auch Warnungen sein. Indem der Maler seiner Angst um den Zustand der Welt bildhaften Ausdruck verleiht, ermöglicht er seinem Publikum ebenfalls, sich seinen Ängsten zu stellen, sie nicht zu verdrängen. Auch sein quadratischer Signaturstempel extrahiert grafisch aus seinem Namen seine ihn beherrschende Angst.
Aber lösungsorientierte Antworten hat Wolfgang Sterrer nicht. Mit der brodelnden Sprache seiner Kunst, mit seinen gewaltigen Bildern möchte er wachrütteln.
Das ist aus meiner Sicht der einzige Hoffnungsschimmer, den Wolfgang Sterrer uns in dieser Zeit gibt, die – um es noch einmal mit Erich Fried zu sagen – nicht „die letzte Zeit sein“ wird, sein soll, wenn wir es denn auch wollen.

Ulrike Meyer

Ausstellung „In der letzten Zeit“

von Wolfgang Sterrer
vom 09. Oktobert bis 30. November 2025.

Die Finissage findet statt
am Sonntag, 30. November 2025 um 17 Uhr
Lesung aus den Werken von Erich Fried in Anwesenheit des Künstlers Wolfgang Sterrer
https://www.wolfgang-sterrer.de/

Petruskirche, Oberhofer Platz, 12207 Berlin
https://www.petrus-kultur.de/ausstellungen

Die Türen Petruskirche sind jeden Mittwoch und Samstag von 10 bis 13 Uhr für Besucherinnen und Besucher geöffnet sowie vor oder nach jeder Kulturveranstaltung.

 

 

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