
Seit 22 Jahren kümmert sich Dagmar Gail um Menschen, die von einer Amputation bedroht sind oder eine solche erleben mussten. Foto: Gogol
Vor rund 22 Jahren traf Dagmar Gail ein schwerer Schlag. Mit Schmerzen im Fuß begann ihre Odyssee von Arzt zu Arzt, es folgte Fehldiagnose auf Fehldiagnose – bis Gail schließlich ein Bein verlor. Zu spät entdeckte ein Arzt, was sie „Beininfarkt“ nennt. Um andere vor diesem Schicksal zu bewahren, gründete Gail vor 22 Jahren den Verein Amputierten Initiative e.V. /Gefäßkranke.
Was ein Herz- und ein Hirninfarkt sind, wissen die meisten Menschen. Bei einem Beininfarkt passiert das gleiche, erklärt Gail. Es bildet sich ein Verschluss im Becken-Bein-Bereich. Die Symptome: Schmerzen und Krämpfe beim Gehen im Knöchel, in den Waden oder den Oberschenkel, ein Kribbeln in den Zehen, Taubheits- und Kältegefühle, Veränderungen der Hautfarbe beim Liegen, auch Ruheschmerzen. Eigentlich eindeutige Zeichen, doch bei Schmerzen im Bein gingen die meisten zum Orthopäden, weiß Gail aus Erfahrung – häufig ein folgenschwerer Fehler.
Was Gail und inzwischen renommierte Angiologen und Gefäßchirurgen Beininfarkt nennen, nennen die meisten Ärzte PAVK – Periphere Arterielle Verschlusskrankheit. Ein Begriff, mit dem die Bevölkerung kaum etwas anfangen kann. Zudem sei es eine „massiv unterschätzte, unterdiagnostizierte und untertherapierte Erkrankung“, so Gail. Auch weil vielen Ärzten das nötige Wissen darum fehle. Das erlebe sie seit 22 Jahren. „Vielen passiert das selbe wie mir“.
In ihrem Zehlendorfer Büro an der Spanischen Allee hört sich Gail die Krankengeschichten von Betroffenen aus aller Welt an, am Telefon, übers Internet. Manche konnte sie vor der Amputation bewahren. So erinnert sich Gail an eine junge Lehrerin, deren Unterschenkel abgenommen werden sollte. Sie holte die junge Frau aus dem Krankenhaus und ließ sie von einem anderen Arzt behandeln – schließlich wurden nur eineinhalb Zehen amputiert. Doch manchmal kann auch Gail nicht helfen, „wenn die Krankheit schon zu weit fortgeschritten ist“.
Es sei eine schleichende Krankheit, so die Gründerin und Vorsitzende der Amputierten Initiative. „Wenn man es merkt, ist es zu spät“. Deshalb sei es so wichtig, dass die Menschen besser über den Beininfarkt informiert werden. Doch das Problem seien oft die Ärzte, die ihre „eingerotteten Wege“ nicht verlassen wollten. Mit Argumenten wie „das war schon immer so“ oder dass PAVK auch im Ausland so genannt werde, wehren sie sich heftig gegen den eingängigen Begriff „Beininfarkt“. Und auch die Krankenkasse schliefen bei der Prävention – obwohl eine Amputation zahlreiche Folgeerkrankungen nach sich ziehe. Und so fühlt sie Gail allein gelassen in ihrem Kampf gegen unnötige Amputationen. Doch dann denke sie an die Menschen, denen sie geholfen hat – Zehntausende seit 1991 – und dann macht sie weiter. Schließlich finden in Deutschland 60.000 Beinamputationen jährlich statt, die zu 90 Prozent auf einen Verschluss im Bein zurückzuführen seien. Zudem gibt es sechs Millionen Gefäßerkrankte – alles potenzielle Amputierte. Doch es werde zu wenig geforscht, in der Ausbildung junger Ärzte käme die Erkrankung nur nebenbei vor, weiß Gail, die sich während ihres ehrenamtlichen Engagements ein umfassendes medizinisches Wissen angeeignet hat, die Ärzte und Krankenhäuser, insbesondere die von ihr angeregten Gefäßzentren in Berlin und in ganz Deutschland kennt, an die sie sich wenden kann.
Doch was tun, wenn man Schmerzen im Bein hat? Ein Gefäßzentrum aufsuchen oder einen Angiologen, empfielt Gail. Wenn der Schmerz zu heftig ist, einen Krankenwagen anrufen. Dann sollte man aber nicht von PAVK oder Beininfarkt sprechen, empfiehlt Gail, sondern Verdacht auf Herzinfarkt angeben. Denn mit dem können auch die Rettungssanitäter etwas anfangen.
(go)