
Genesis von Claudia Sawallisch in der Petruskirche, Besucherin der Ausstellung. | Foto: Anja van Kampen.
In der Petruskirche am Oberhofer Platz ist derzeit eine Ausstellung mit Werken der Künstlerin Claudia Sawallisch zu sehen.
Zur Vernissage sprach Ulrike Meyer.
(Fotos: Anja van Kampen und Tina Wünsch)
Wir veröffentlichen die Laudatio im Wortlaut:
Ikarus, der aufgrund seines Schicksals zu einer der berühmtesten Figuren der griechischen Mythologie geworden ist, führt den Titel dieser Ausstellung an und verweist somit auch auf die psychologisch-künstlerische Auseinandersetzung der Gemälde und Skulpturen, die wir hier in der Petruskirche sehen.
In den Meta-Morphosen Ovids, einem römischen Dichter der Antike, werden wir Zeugen von Ikarus dramatischem Schicksal, das eng verknüpft ist mit dem Handeln seines Vaters Daidalus. Ikarus lebte mit seinem Vater Daidalus in Verbannung auf der Insel Kreta. Um von dort zu entkommen, baute der Vater für sich und seinen Sohn große Flügel aus Vogelfedern, die er mit Wachs zusammenfügte, um im Flug die Insel verlassen zu können. „Folge mir auf der Bahn!“ – forderte der Vater seinen Sohn auf und das Schicksal nahm seinen Lauf!

Ikarus | Foto: Anja van Kampen
In Ovids Meta-Morphosen heißt es weiter:
“Als sich der Knabe begann des verwegenen Fluges zu freuen,
Seinen Vater (Führer) verließ und,
von Lust nach dem Himmel verleitet,
Höhere Bahnen zog. (Doch) Die Nähe der zehrenden Sonne
weichte das duftende Wachs und löste die Fesseln der Federn“.
Ikarus wagte das Äußerste: Übermütig flog er hoch, so nahe an die Sonne heran, dass sie – eigentlich das Sinnbild des Lebens -, mit ihrer sengenden Hitze seine Flügel zerstörte. Ikarus stürzte in die Tiefe und ertrank im Meer. Der Flug, der eigentlich zur Befreiung aus der Verbannung führen und der zugleich auch eine Loslösung von seinem Vater sein sollte, wurde zu einem dramatischen Todesflug.
Der Sturz des Ikarus mit seiner Angst und Tragik ist seit frühesten Zeiten bis in die Gegenwart ein beliebtes Motiv in der Malerei. Die Künstlerin Claudia Sawallisch dechiffriert jedoch die klassische Lesart und widmet ihre kreativen Fähigkeiten dem Kind Ikarus, welches der Willkür väterlichen Handelns ausgesetzt war. Sie thematisiert aber nicht sein Scheitern, sondern gibt mit ihren Arbeiten seiner Kindlichkeit Raum, seiner Lebenslust, seiner Kraft und seinem Mut zum Risiko.
Kurzum: Claudia Sawallisch widmet sich dem Thema der Selbstwirksamkeit. Zugleich löst sie sich von der festgelegten männlichen Geschlechtlichkeit, indem sie auch eine Ikaria kreiert. Claudia Sawallisch relativiert also den Mythos. Für sie steht Ikarus eher für ein Prinzip, denn für ein Geschlecht und ist unabhängig von der männlichen oder weiblichen Zuschreibung. Ihr non-binäres Ikarus-Prinzip symbolisiert das Wachsen und Werden, das Streben des Individuums nach Selbstverwirklichung.
Das Ikarus-Prinzip soll uns – so Claudia Sawallisch – ermutigen und mahnen zugleich, „dass Mut und der Wille zur Selbstverwirklichung auch in der Auseinandersetzung mit Misserfolgen und Herausforderungen zu finden sind“. Ihre Ikarus/Ikaria Figuren aus Pappmaché hüpfen, fliegen, tanzen, schweben – hinein in die Welt, hoch in den Himmel, mit betörender Leichtigkeit und Eleganz. Aber nie, nie stürzen sie in den Abgrund!

Ikaria | Foto: Tina Wünsch / @TinOlliWish
Die inhaltliche Aussage der Papier-Plastiken werden unterstützt, indem Claudia Sawallisch die aus der Welt der Bildhauerei stammende Methode des Non-Finito anwendet. Die kleinen Plastiken scheinen unvollendet und vorläufig, indem sie unbearbeitete Partien zeigen – dies ist der ästhetische Charme der Skulpturen. Das bewusste Weglassen, diese offenen Konturen fordert das Publikum auf, die Bewegungen der Figuren zu ergänzen und sie mit ihren Gefühlen zu füllen.
Auch die großformatige, mit Acryl auf Leinwand, gezauberte „Ikaria“, 2023, von Claudia Sawallisch, die von eindrucksvoller Leichtigkeit ist, stürzt nicht ab. Im Gegenteil: Gleich einer Balletttänzerin balanciert sie sicher auf ihrer Fußspitze, es scheint als schwingt sie sich jeden Moment kraftvoll mit ihren mächtigen Flügeln hoch in das dunkle Himmelsblau, aus dem auch ihre Flügel gleich einem Herzen erwachsen. Illuminiert wird Ikarias Körper von einem zarten gelb-grünen Schimmer im Hintergrund, der an die Sonne erinnert.
Die Ikarus/Ikaria-Flügel führen uns zu einem anderen geflügelten Wesen in der Kunst von Claudia Sawallisch. Es ist die Figur des „Uriel“, die dem gleichnamigen Erzengel Uriel entlehnt ist. Bis ins Mittelalter gehörte Uriel im Einklang mit der jüdischen Tradition zum Christentum, er war einer der vier bzw. fünf Erzengel. In den Ostkirchen nach wie vor bekannt und verehrt, ist er jedoch gegenwärtig in der westlichen Kirche mehr oder weniger unbekannt.

Uriel in Love | Foto: Tina Wünsch / @TinOlliWish
Im frühen Mittelalter herrschten aus kirchlicher Sicht bedenkliche Engelanbetungen und Engelkulte, eine falsche Verehrung der Engel, die von der Kirche verboten wurde. Im Zuge dieser kirchlichen Restriktion wurde auch der Erzengel Uriel zu einem dämonisierten Außenseiter umgedeutet und man verbannte ihn aus der Christlichen Lehre. Nur in den Apokryphen, den religiösen Schriften, die nicht in den biblischen Kanon aufgenommen wurden, wird noch vom Erzengel Uriel berichtet.
In der christlichen Kunst wird Uriel bis ins Mittelalter vor allem gemeinsam mit den Erzengeln Michael, Gabriel und Raphael dargestellt. Wie sie gehörte Uriel in der Engelshierarchie zu den Seraphimen, zu denen, die Gott ständig umgaben. Uriel, dessen Name „Licht oder Feuer Gottes“ bedeutet, wurde häufig dargestellt mit seinen Attributen: einem Buch, seinem brennenden Schwert und einer Flamme in seiner Handfläche, somit ist er der Erzengel der Weisheit, des Lichts und der Wahrheit Gottes.
Diesem in der westlichen Kirche ungeliebten Außenseiter widmet Claudia Sawallisch ein großformatiges Gemälde mit dem Titel „Uriel in Love“, 2019. Wie auch bei Ikarus löst sich Claudia Sawallisch auf den ersten Blick bei ihrer Uriel-Darstellung von allen ihm zugeschrieben Merkmalen und Eigenschaften.
Bei ihr ist Uriel keine heldenhafte, aufrecht und stramm stehende Figur. Embryonal kauert Uriel mit angezogenen Beinen, sein Gesicht ist gesenkt, seine Arme sind gleich Flügeln weit ausgebreitet und scheinen bereit für eine Umarmung zu sein. Für eine behütende, liebevolle Umarmung, denn zu seinen Füßen liegt versteckt eine Frau, in deren Gesicht sich Uriel wie ein Narziss spiegelt und in der er so seine Vision von Liebe manifestiert. Bei genauerem Hinsehen ist zu erkennen, dass seine Arme außerdem ein Herz andeuten, an dessen Spitze unten das Frauengesicht liegt.
Umschlungen wird Uriel, der auf einem Untergrund von kräftigen Weißtönen mit blauen Akzenten schwebt, von einem roten Farbstrahl, seinem Energiefeld, das ihn hält, schützt und auch abgrenzt.
Das Bild Uriel als „Kleiner geflügelter Soldat“, 2019; hat eine ähnlich Position wie „Uriel in Love“. Der „Kleine geflügelte Soldat“ kauert sich zusammen, er umschlingt hockend seine Beine, versteckt sein Gesicht in den Knien und macht einen sehr schutzbedürftigen Eindruck – seine Flügel umhüllen ihn schützend wie eine genietete Rüstung, tapfer ist er ganz mit sich allein. Auch die kleine, in sich geschlossene Figur bildet ein Herz und ist somit ebenfalls ein Zeugnis von versteckter Selbstliebe.

Kleiner Soldat | Foto: Anja van Kampen
Als Protestantin hat sich Claudia Sawallisch zusätzlich mit dem Buch Genesis auseinandergesetzt, mit dem die jüdische und auch christliche Bibel eröffnet wird. Das Buch Genesis enthält u.a. die Erz-Eltern-Erzählungen, in denen beispielsweise über die Stamm- oder Ahnmütter Sara, Rebekka, Rahel und Lea berichtet wird. Das Diptychon, die zweiteilige Bildtafel, mit Namen „Genesis“ (siehe Titelbild), 2021, ist eine Hommage von Claudia Sawallisch an die Stammmütter, mit denen die Menschheitsgeschichte oder aber auch jede Familiengeschichte beginnt. In der Genesis heißt es: „Selbst dort, wo Männer scheinbar die Handlung tragen, nehmen Frauen entscheidende Rollen ein“ – eine bis heute gültige Wahrheit.
Die beiden dargestellten Stammmütter von Claudia Sawallisch, die stolz und kraftvoll auf einem hellen Untergrund stehen, haben eine starke feministische Botschaft, denn auf ihren Schultern stehen und zu ihren Füßen liegen die Mütter und Kinder dieser Welt. Den Genesis-Frauen von Claudia Sawallisch sind Flügel gewachsen, die ihren Mut symbolisieren, weil sie sich selbstbewusst den Herausforderungen ihrer großen Aufgabe gestellt haben. Mit ihren Flügeln erinnern sie zugleich an die nicht einfache Aufgabe der Mütter, ihre Kinder loszulassen, ihnen Flügel wachsen zu lassen. Schon Johann Wolfgang von Goethe spricht von zwei Geschenken, „die wir unseren Kindern machen sollten. Das eine sind Wurzeln, das andere sind Flügel“. An diesen Prozess des Loslassens erinnert Claudia Sawallisch mit ihrem Bild „Deine Flügel“, 2018.

Deine Flügel | Foto: Tina Wünsch / @TinOlliWish
Miteinander wachsen, sich loslassen, sich dann wiederfinden und gemeinsam weiterwachsen – das sind Prozesse, die insbesondere Menschen machen, die zusammen- oder in einem familiären Verbund leben. Für diese Prozesse sind persönliches Wachstum und psychische Reifung vonnöten. Nur mit einem hohen Maß an Bewusstsein und Sensibilität ist diese persönliche, vorwärts gerichtete Entwicklung möglich. All diese Gedanken finden sich in dem Gemälde „Wirksam“, 2019, in dem ein Paar in vertrauter Innigkeit zusammensitzt.
Ihre Acryl-Bilder gestaltet Claudia Sawallisch kraftvoll, mit schnellem Farbauftrag, um innere Prozesse zu gestalten, und unterstützt so mit ihrem expressiven Malstil ihren figurativen und prozesshaften Erzählansatz.
Claudia Sawallisch, die von sich sagt, sie sei eine malende Bildhauerin, arbeitet mit einer sparsamen Farbpalette. Sie verwendet für ihre Bilder das Blau Indanthron. Dieser Blauton ist, neben Schwarz, das dunkelste Pigment der Farben und ist weit entfernt von dem klischeebeladenen „Himmelblau“. In der Farbpsychologie steht Indanthron nicht nur für die Weite des Himmels, sondern auch für die Gefühle der Angst und Bedrohung oder steht für Bewusstsein und Intellekt. Das Blau Indanthron unterstützt also die inhaltlichen Aussagen der Bilder. Zugleich kontrastiert es intensiv mit den vielfältig abgestuften Weißtönen der Bilder und dem sparsam eingesetzten energetischen Rot.
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Alle Bilder und Skulpturen von Claudia Sawallisch ergänzen einander, sind wie der zweite Teil des Ausstellungstitels verkündet „Botschafterinnen und Gesandte“. Ihnen liegt die beglückende oder schmerzhafte Erkenntnis der Selbstwirksamkeit zugrunde, die auch wir uns für unsere weitere Entwicklung zu Nutze machen können: dass wir ohne Angst zu haben, Fehler machen oder scheitern können, um die Erkenntnisse daraus in unser Lebensspiel zu integrieren, um zur Leichtigkeit zurückzufinden.
Das Bild „Himmelwärts“, 2025, mit Uriel auf der Schaukel, soll an einen spielerischen Umgang mit uns selbst und unserem inneren Kind erinnern. Dieses Bild hat Claudia Sawallisch in den letzten Wochen exklusiv für diese Ausstellung gemalt und feiert hier in der Petruskirche seine Premiere.
Ulrike Meyer

Laudatorin Ulrike Meyer (l.) und Claudia Sawallisch. | Foto: Anja van Kampen
Ausstellung
bis 20. Mai
Petruskirche, Oberhofer Platz, 12207 Berlin
https://www.petrus-kultur.de/ausstellungen
Die Türen Petruskirche sind jeden Mittwoch und Samstag von 10 bis 13 Uhr für Besucherinnen und Besucher geöffnet sowie vor oder nach jeder Kulturveranstaltung.
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