
In der Spiegelwand spiegelt sich ihr 30jähriges Jubiläum. | Foto: Daniela von Treuenfels
Das Gedenken an ermordete Juden an einem prominenten und belebten Ort hat zivile und dezentrale Wurzeln. Ein Gastbeitrag von Günter Schlusche von der Initiative Haus Wolfenstein über die historische und politische Bedeutung der Spiegelwand in Steglitz.
Der Beginn der Erinnerung an jüdisches Leben in Steglitz, an dessen Verfolgung und Auslöschung, reicht bis in die frühen 50er Jahre zurück, als Walter Schneider-Römheld vom Steglitzer Heimatverein die Verbindung zu dem in den USA lebenden Kurt Wolfenstein, dem letzten Vorsitzenden des Synagogenvereins Steglitz, herstellte. Weitere Bemühungen führten 1966 immerhin zur Benennung der zwischen Birkbuschstraße und Hindenburgdamm neu gebauten Straße in “Wolfensteindamm“. Andere Initiativen blieben jedoch ergebnislos. In den 80er Jahren machten sich Studenten der Fachhochschule für Sozialarbeit und Schüler der Fichtenberg-Schule auf die Suche. Erst dann setzte eine Wende ein, an deren Anfang die 1987 gegründete Initiative Haus Wolfenstein (IHW), stand. Sie entdeckte das völlig vergessene und verwahrloste Gebäude mitsamt seiner Geschichte und setzte sich öffentlich für dessen Erhalt ein.

Die ehemalige Synagoge im Hof der Düppelstraße 41. Das zuerst als Stallgebäude genutzte und mehrfach umgebaute Haus steht heute unter Denkmalschutz. | Foto: Daniela von Treuenfels
Wenn es nach der IHW gegangen wäre, würden wir heute gar nicht hier vor der Spiegelwand stehen, sondern 50 m weiter nördlich, nämlich in dem Innenhof hinter diesem sechsgeschossigen Gebäude, in dem sich eine ca. 170 Jahre alte Remise, also ein Stallgebäude befindet. Dieses Gebäude wurde 1897 von Moses Wolfenstein, dem Eigentümer und Betreiber des im Vorderhaus befindlichen Textilkaufhauses, zu einer Synagoge umgebaut. Dieses Gebäude, das – man mag es kaum glauben – auch heute noch dort versteckt im Hinterhof steht, war nicht nur der Namensgeber unseres Vereins, sondern stand eigentlich im Zentrum unserer Vereinsaktivitäten. Die IHW wollte die Vereinssynagoge von Moses Wolfenstein als Lernort nutzen und als Paradigma der Emanzipation und der gesellschaftlichen Anerkennung des Judentums zugänglich machen.
Ein denkmalpflegerisches Gutachten der Architektin Myra Warhaftig führte 1988 zum Denkmalschutz für das Gebäude, das bis 1989 als Schuppen und teilweise als Eisdiele genutzt wurde. Aber der neue Eigentümer, der dann den heutigen sechsgeschossigen Neubau davor errichtete, wollte das Synagogengebäude zugunsten einer Tiefgarage abreißen und klagte gegen den Denkmalschutz. Es bedurfte einer weiteren juristischen Auseinandersetzung, um den Abriss zu verhindern und den Erhalt des ehemaligen Synagogengebäudes endgültig zu sichern. Doch trotz eines Nutzungskonzepts für das nun wieder ins öffentliche Bewusstsein gelangte Gebäude, trotz Gesprächen mit dem Eigentümer und trotz der Akquisition finanzieller Mittel geschah: Nichts!
Immerhin, das Hinterhofgebäude blieb erhalten, wurde restauriert und wird bis heute als Bürogebäude genutzt – nach Anmeldung hat man bei bestimmten Gelegenheiten die Möglichkeit, im Hinterhof das ehemalige Synagogengebäude anzusehen.
Die Realisierung der Spiegelwand
Erst nachdem klar wurde, dass es mit einer geschichtsgerechten Nutzung des ehemaligen Synagogengebäudes nichts werden würde, begannen Überlegungen über ein angemessenes Gedenken an die verfolgten und ermordeten Steglitzer Juden, das den davorliegenden Hermann-Ehlers-Platz in den Fokus nahm. Sie mündeten in den Start des Kunst-am-Bau-Wettbewerbs „Denkzeichen ehemalige Synagoge Haus Wolfenstein“ im Juni 1992 unter der Ägide des Kunstamts Steglitz, vertreten durch seine Leiterin Sabine Weißler. Vier Monate später, nach einem vollständig regelkonformen Wettbewerbsverfahren entschied sich das unabhängige Preisgericht im Oktober 1992 klar für den Entwurf der Berliner Architekten Wolfgang Göschel und Joachim von Rosenberg zusammen mit dem Historiker Hans-Norbert Burkert.

Rund 100 Menschen feierten das 30jährige Bestehen der Spiegelwand auf dem Hermann-Ehlers-Platz am 11. Juni 2025. | Foto: Daniela von Treuenfels
Die Hoffnung, nun eine gute Lösung gefunden zu haben, blieb allerdings ein Trugschluss, denn diese Entscheidung war der Startschuss für eine „hässliche Kampagne“ (so der Publizist Horst Seferens, siehe unten) in der Bezirksöffentlichkeit, in der bald von „Schuldgefühlskoliken“ der Projektinitiatoren die Rede war. Sabine Weißler und andere wurden zur Zielscheibe heftiger Anwürfe. Im weiteren Verlauf verstieg man sich darauf, das Denkmal bis zur Unkenntlichkeit verkleinern zu wollen – ein Vorstoß, der die Front der Unterstützer zeitweilig aufweichte, aber auf den klaren Widerstand der Künstler traf. Dann kam der Einwand, das Denkmal werde zum Schandfleck, weil immer wieder mit Verschmutzungen durch Graffiti zu rechnen sei. Als auch das nicht fruchtete, musste die Verkehrssicherheit herhalten: In der Spiegelwand würden Autoscheinwerfer reflektiert werden und Unfälle würden sich häufen. Sogar die Einsetzung einer parteiübergreifenden Arbeitsgruppe von Sachverständigen, die sich mit den Künstlern gemeinsam alle Vorschläge prüfte und die vorgebrachten und teils absurden Gegenargumente entkräftete, brachte keine Lösung!
Die geschichtsvergessene Kampagne gipfelte in einem Antrag der CDU-Fraktion des Bezirks vom 21. Februar 1994, in dem die ersatzlose Streichung des Projekts gefordert wurde – ein Angriff auf die Freiheit der Kunst, der in entlarvender Übereinstimmung mit den damals in der BVV vertretenen Republikanern unternommen wurde!
Ignatz Bubis, der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, brachte seine Kritik auf den Punkt: „Ein Denkmal ist kein Telefonhäuschen“! Jens Jessen sprach in der FAZ vom 7.3.1994 von „Schamverwerfungen“, von „prekären Gemeinsamkeiten der CDU-Fraktion mit den Republikanern“ und davon, dass der Eklat „ein historisches Exempel für die Situation ist, die entsteht, wenn der Antisemitismusvorwurf als gängige Münze in innerdeutschen Auseinandersetzungen umläuft, in denen der jüdischen Sache gar nicht mehr gedacht werden muss“.
Die Debatte erreichte nun bundesweite, ja internationale Dimensionen und drohte endgültig zu eskalieren, als Bausenator Wolfgang Nagel eingriff und den Bezirk ultimativ aufforderte, das Denkmal zu realisieren. Nach ergebnislosem Ablauf einer Frist zog er das Projekt an sich und beauftragte die zuständige Abteilung seines Hauses mit der Ausführung der von den Entwerfern autorisierten Fassung. Die Senatsverwaltung leistete in Kooperation mit den Architekten gute Arbeit!
Am 7. Juni 1995 wurde die Spiegelwand unter großer öffentlicher Anteilnahme eingeweiht. An diesem Tag sprachen unter anderen Fred Silberstein aus Neuseeland, dessen Name als Deportierter auf der Spiegelwand verzeichnet ist, Ruth Gross, eine Zeitzeugin aus Berlin und weitere Repräsentanten der Politik und des jüdischen Lebens. Mehrere Angehörige der Familie Wolfenstein aus den USA waren ebenfalls anwesend.
Die Spiegelwand heute
Die Nachbarschaft der Spiegelwand zum Wochenmarkt, zum Geschäftsleben auf dem Hermann-Ehlers-Platz und an der stark genutzten Schloßstraße ist kein Zufall – sie ist gewollt, weil so die Erinnerung zum Bestandteil des alltäglichen Lebens für alle wird! Denn wir brauchen eine Gedenkkultur, die im Alltag der Menschen präsent ist, nicht nur an wenigen Feiertagen.
Die auf der Spiegelwand abgebildeten Seiten der Deportationslisten, auf denen Steglitzer Juden verzeichnet sind, geben deren letzte Wohnorte wieder. Damit wird die Spiegelwand zu einem im Stadtraum aufgeschlagenen Geschichtsbuch, das mit den vielen in Berlin verlegten Stolpersteinen korrespondiert – allein in Steglitz-Zehlendorf sind bereits 500 Stolpersteine verlegt. Dieter Fitterling, der leider 2024 verstorbene Mitstreiter der IHW, hat jahrelang Rundgänge zu den Wohnorten von Steglitzer Juden durchgeführt und zum Leben vieler dieser Personen intensiv geforscht. Andere haben es ihm gleichgetan: Steglitzer Schüler/innen und ihre Lehrer haben ähnliche Recherchen und Projekte durchgeführt und wir können hoffen, dass diese Rundgänge und Recherchen noch viele Jahre fortgesetzt werden. Denn heute fehlt es an Zeitzeugen, Überlebenden und Chronisten.
Die stadträumliche Ausrichtung der Spiegelwand auf die Synagoge ist unaufdringlich, aber lesbar: Das ehemalige Bethaus der Steglitzer Juden ist zwar nicht auf den ersten Blick zu sehen, aber es ist noch da! Durch die Spiegelwand wird es öffentlich präsent und spricht zu uns.
Dies alles macht die Spiegelwand zu einem modernen, zeitgemäßen und auch heute wirksamen Objekt. Seit 30 Jahren steht die Spiegelwand, unverändert, unbeschmutzt, dokumentarisch wirksam, künstlerisch nicht verschlissen und ästhetisch überzeugend. Sie zeigt, wie aus einer Verlegenheitslösung, einer verpassten Chance dennoch etwas Herausragendes entstehen kann. Zusammen mit den vielen anderen mittlerweile entstandenen Erinnerungsorten, dem Deportationsdenkmal Putlitzbrücke, den Orten des Erinnerns im Bayerischen Viertel in Schöneberg, dem Deportationsdenkmal Gleis 17 im S-Bahnhof Grunewald sowie den später fertiggestellten Denkmälern, zu denen das Denkmal an die Bücherverbrennung auf dem Bebelplatz, die Gedenkstätte Topographie des Terrors und last but not least das Denkmal für die ermordeten Juden Europas gehört, ist sie Teil eines weitgespannten, über Berlin hinausweisenden Netzwerks, das für innovative Erinnerungsarchitektur und Kunst im Stadtraum steht.
Konstituierend für die Spiegelwand war und ist ihre zivilgesellschaftliche Wurzel.
Die Republikaner sind untergegangen, aber heute haben wir die AfD, deren Gesinnungsgenossen auftrumpfen und im großen Stil präsent sind. Sie sagen: Das ist „ein Vogelschiss“! „Weg damit!“ Aber wir lassen uns davon nicht irritieren – ganz im Gegenteil! Diese von nicht-jüdischen Bürgern initiierte Gedenkkultur ist unvermindert notwendig, gerade weil sie aus der Zivilgesellschaft kommt. Das macht ihre Kraft und Einzigartigkeit aus und in diesem Sinne lasst uns weitermachen!
Dieser Beitrag wurde auf der Feierstunde der Initiative Haus Wolfenstein auf dem Hermann-Ehlers-Platz aus Anlass des 30. Jahrestages der Übergabe der Spiegelwand an die Öffentlichkeit am 11.6.2025 vorgetragen.

Der Autor: Günter Schlusche ist einer der Gründer der Initiative Haus Wolfenstein. | Foto: Daniela von Treuenfels
Literatur:
Initiative Haus Wolfenstein, Von Juden in Steglitz – Beiträge zur Ortsgeschichte, 1. Auflage Berlin 1987, 2. Auflage Berlin 1990.
Kunst am Bau für den erweiterten Hermann-Ehlers-Platz, Ausschreibung des engeren Wettbewerbs Denkzeichen Ehemalige Synagoge Haus Wolfenstein, Düppelstr. 41, Berlin- Steglitz, Ausschreibung, Berlin 1992.
Horst Seferens, Ein deutscher Denkmalstreit – Die Kontroverse um die Spiegelwand in Berlin-Steglitz, Berlin 1995.
Horst Seferens, Spiegelwand Berlin-Steglitz, Die Neuen Architekturführer Nr. 74, Berlin 2005.
Weblinks:
https://www.anderes-berlin.de/html/synagoge_steglitz.html
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