Am Mittwoch steht im Kulturausschuss der BVV wieder die Neubenennung der Treitschkestraße auf der Tagesordnung. Die CDU verzögert den demokratischen Prozess zur Festlegung eines neuen Straßennamens.
Als Anwälte der Anwohner wollen die Christdemokraten den bisherigen Straßennamen als „ein historisches Dokument“ erhalten. „Positionen mit menschenfeindlicher Wirkung“ des Historikers Heinrich von Treitschke“ sollten als „Mahnung“ im gesellschaftlichen Gedächtnis bleiben.
So schreibt es die CDU-Abgeordnete Claudia Wein am 17. Dezember an „die Anwohnerinnen und Anwohner der Treitschkestraße in Berlin-Steglitz“. Darin heißt es: „Die Treitschkestraße wurde im Jahr 1906 benannt. Der Namensgeber, Heinrich von Treitschke, war ein einflussreicher Historiker und Publizist des 19. Jahrhunderts. Auch wenn seine Ansichten und seine Rolle in der Geschichte umstritten sind, stellt die Benennung dieser Straße ein historisches Dokument dar, das die Entwicklung unserer Stadt widerspiegelt.“
Umstritten war Treitschke (1834 – 1896) bereits zu Lebzeiten. Der Historiker hielt nicht viel von der Objektivität in der Geschichtsschreibung. Seine zahlreichen Aufsätze und Schriften enthielten daher auch Aussagen zu politischen Zielsetzungen. Von 1871 bis 1884 gehörte der gebürtige Dresdener dem Reichstag an.
Aufgrund einer Masernerkrankung war Treitschke seit seiner Kindheit fast taub. Seine Vorträge und Vorlesungen waren auch wegen ihrer Lautstärke spektakulär und gesellschaftliche Ereignisse, die auch ein nichtakademisches Publikum anzogen. Frauen waren in seinen universitären Veranstaltungen nicht zugelassen.
Der einflussreiche Publizist war seit 1858 zunächst Redakteur und später Herausgeber (1866 bis 1889) der Preußischen Jahrbücher. Treitschke befürwortete die deutsche Monarchie und unterstützte die kolonialen Ideen des Deutschen Reiches. Der politische Historiker hatte großen Einfluss auf seine Studenten, die Jahrzehnte später Verantwortung trugen und Regierung und Verwaltung sowohl im Kaiserreich als auch in der Weimarer Republik prägten.
Heinrich von Treitschke war überzeugter Antisemit.
„Die Juden sind unser Unglück“ formulierte der Historiker im Jahr 1879 – der wuchtige Satz löste eine zwei Jahre andauernde Debatte aus, die als „Berliner Antisemitismusstreit“ in die Geschichte einging. Im Kern sah Treitschke einen unangemessen großen Einfluss der jüdischen Kultur auf die Gesellschaft. Der Wikipedia-Eintrag zu seiner Person fasst zusammen:
„Nach seiner politischen Theorie ging er davon aus, dass ein Jude, der den Willen zur vollen Bejahung seiner Umwelt habe, die Fähigkeit besitze, das deutsche Wesen in sich aufzunehmen und das jüdische Wesen abzustreifen. Eine solche Bekehrung zum Deutschtum mit all seinen spirituellen Werten sei grundsätzlich möglich, müsse aber entschiedener eingefordert werden. Alles Gute an den Juden verdankten sie der Anpassung an die deutsche Welt, dem Judentum selbst wohne hingegen keine positive Kraft inne.
Als Religion sei es vielmehr ein überlebtes Relikt, das über eine für den Nationalstaat gefährliche Eigenschaft verfüge, nämlich Solidaritätsbindungen über nationale Schranken hinweg zu schaffen und die Bildung eines übernationalen jüdisch-säkularen Netzwerks zu begünstigen. Die gesunde Hauptrichtung der Geschichte sei dagegen nur in einem modernen Nationalstaat mit christlicher Tradition verwirklicht. Das Judentum dürfe niemals als gleichberechtigte Konfession akzeptiert werden, da auf dieser Basis keine nationale Einheit möglich sei und letztlich als Alternative nur die Vertreibung der Juden bliebe.“
Vom Vernichtungsgedanken der Nazis war Treitschke weit entfernt. Niemals wollte er jüdischen Menschen ihre bürgerlichen Rechte nehmen. Auch die Rassenlehre mit dem Verbot einer „Durchmischung“ lehnte der politisierende Historiker ab. Seine Thesen fielen jedoch auf fruchtbaren Boden. Die Einordnung der Wissenschaft nach 1945 lautet einmütig: Treitschke hat das Ressentiment gegen Juden innerhalb des Bürgertums salonfähig gemacht. Seine Anhänger waren so angetan, dass sie in mehreren Städten Straßen nach ihm benannten, beispielsweise in Nürnberg, Heidelberg, München, Hannover, Karlsruhe oder Berlin. Fragwürdiger Höhepunkt der Treitschke-Rezeption: Der Satz „Die Juden sind unser Unglück“ wurde zum Leitspruch der Nazi-Postille „Der Stürmer“.
Die Zeiten ändern sich – langsam und teils erst nach jahrzehntelangen Debatten. Stuttgart hat seit 2010 keine Treitschkestraße mehr, Nürnberg seit 1989, Essen seit 2003. Treitschkes Ruhestätte in Schöneberg ist seit 2003 kein Ehrengrab der Stadt Berlin mehr. Kontroverse Diskussionen gab es auch in München und Hannover, Initiativen zur Umbenennung konnten sich dort jedoch nicht durchsetzen. Heidelberg hat seit 2011 eine Goldschmidtstraße. Karlsruhe hat sich für einen Zusatz zum Straßenschild entschieden: „Die Benennung entspricht nicht mehr den heutigen Wertevorstellungen.“
In Steglitz-Zehlendorf dauert die Diskussion um eine Umbenennung der Treitschkestraße nun schon rund ein Vierteljahrhundert lang. Im Jahr 2000 scheiterte ein BVV-Beschluss, weil nicht berücksichtigt worden war, dass die Umbenennung einzelner Straßenabschnitte nicht zulässig ist. 2007 votierte eine Mehrheit aus Grünen und CDU für einen Kompromiss: Der Park hinter dem neuen Einkaufszentrum Boulevard sollte nach dem Historiker und Treitsche-Widersacher Harry Bresslau benannt werden. Dies wurde umgesetzt, außerdem wurde eine Infotafel aufgestellt.
Einige Jahre später legten CDU und Grüne in ihrer Uneinigkeit ihre Verantwortung für Straßen(um)benennungen in die Hand der Anwohner, die Parteien hielten das für einen guten Kompromiss. Die Abstimmung verlief, wen wundert’s, wie erwartet: weil sie keine Lust hatten auf Bürokratie und Kosten, lehnten die Leute eine Änderung des Straßennamens ab. Die CDU sieht sich bis heute als Anwältin der Anwohner, ohne zu begründen, warum Heinrich von Treitschke eine Ehrung durch eine Straßenbenennung (weiterhin) verdient hätte.
Wer das komisch findet, wende seinen Blick nach München. Die bayerische Landeshauptstadt benannte erst 1960 (als einzige Kommune nach Kriegsende) – unter einem SPD-Bürgermeister – eine Straße nach Treitschke. Während die Südwestberliner SPD seit Jahren die Speerspitze der regionalen Namensänderungs-Bewegung bildet, schaffen es die Bajuwaren bis heute nicht, einer entsprechenden Initiative zu folgen. Der heutige SPD-Bürgermeister müsste eine Entscheidung seines Vorgängers beziehungsweise seiner Partei revidieren.
Die irrlichternden Kommunen erhielten erst 2021 ein brauchbares Instrumentarium, das ihnen helfen soll, die Benennung und Umbenennung von Straßen auf eine sachliche Grundlage zu stellen. Der Deutsche Städtetag hatte zuvor bundesweit die sehr unterschiedliche Praxis von der Benennung von öffentlichen Einrichtungen und Verkehrsflächen zusammengetragen, Gerichtsurteile recherchiert und daraus einen Kriterienkatalog entwickelt.
Demnach dienen Straßennamen zuallererst der Orientierung: Häuser und Plätze sollen leicht gefunden werden. Bei der Benennung nach Personen „ist zu beachten, dass es sich um eine Person handelt, die es würdig ist geehrt zu werden“. Unzulässig sind laut der Handreichung Personen, „die Ziele, Handlungen oder Wertvorstellungen verkörpern, die dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschlands oder der Verfassung des Landes entgegenstehen oder dem Ansehen der Stadt schaden“. Eine Umbenennung „kann notwendig werden, wenn neue historische Bewertungen vorliegen, die eine Benennung nach heutigen Grundsätzen verbietet“.
Die BVV Steglitz-Zehlendorf hat nach den Leitlinien des Städtetages alles richtig gemacht: Treitschkes Thesen verstoßen gegen die Menschenwürde und gegen das Recht auf Religionsfreiheit. Eine Ehrung des Historikers wäre nach heutigen Maßstäben ausgeschlossen, was ein guter Grund für eine Straßenumbenennung sein kann. Die Anwohner und die Öffentlichkeit wurden beteiligt. Schließlich wurde bei der Suche nach einem neuen Straßennamen darauf geachtet, einen regionalen Bezug herzustellen sowie „Angehörige bislang benachteiligter Gruppen bei Neubenennungen in besonderer Weise in Betracht zu ziehen.“
Die BVV als politisch verantwortliches Gremium hatte 2022 mehrheitlich gegen die Stimmen der CDU und der AfD beschlossen, den Antisemiten Treitschke aus dem kollektiven Gedächtnis zu tilgen. Dann baten die Parteien der Zählgemeinschaft (SPD, Grüne und FDP) Anwohner und die interessierte Öffentlichkeit um Vorschläge für eine Neubenennung. Das Ergebnis: „55 Mails mit insgesamt 21 unterschiedlichen Namensvorschlägen“. Sieben Nominierungen entsprachen nicht den zuvor festgelegten und kommunizierten Kriterien. Aufgrund der Vielzahl an Ideen entschieden die Fraktionen, mit dem Fokus auf Steglitz die Auswahl weiter einzugrenzen. Übrig blieben sieben Vorschläge, die dem Kulturausschuss zur Abstimmung vorgelegt wurden.
Es wurde ein denkwürdiger Spätnachmittag Ende November im Rathaus Steglitz. Die Sitzung des Gremiums war extra von Zehlendorf hierher verlegt worden, um Interessierten durch kurze Wege die Teilnahme zu ermöglichen. Sie begann über eine halbe Stunde später, da die Verordneten der CDU zunächst ins falsche Rathaus gegangen waren. Es folgte eine Sternstunde der Zivilgesellschaft – mit befremdlichen Reaktionen der Konservativen.
Pfarrerin Franziska Matzdorf warb für den Vorschlag der Patmos-Gemeinde, Elisabeth Schmitz zu ehren. Die Pädagogin war Mitglied der Bekennenden Kirche und setzte sich schon gegen die Diskriminierung von Menschen jüdischer Herkunft ein. Mit Beginn der Massendeportationen leistete sie Hilfe für versteckt lebende Juden.
Ein Schüler der Kopernikus-Oberschule sprach sich stellvertretend für seine ebenfalls anwesenden rund 20 Mitschüler für Emma Klara Döltz aus. Die gebürtige Steglitzerin gehörte der SPD an und engagierte sich für den Kinderschutz und die Gleichberechtigung von Frauen. Sie schrieb für die Frauenzeitschrift Die Gleichheit, die von Clara Zetkin herausgegeben wurde. Später wurde sie unter anderem zweite Vorsitzende der Arbeiterwohlfahrt in Berlin. „Ich und meine Klasse waren uns einig, dass das was Besonderes ist“, so der Schüler des Geschichtskurses.
Die FDP warf den Namen Eleanor Lansing Dulles in den Ring, Schwester von John Foster Dulles und bekannt geworden als „Mutter Berlins“, die sich unter anderem auch für den Bau des Benjamin-Franklin-Klinikums starkmachte.
Die Grünen ergänzten die Favoriten um Lilly Wust: Die ursprüngliche nationalsozialistische Mitläuferin und vierfache Mutter verliebte sich 1942 in die Jüdin Felice Schragenheim, die wenig später von den Nazis verschleppt und ermordet wurde. Die Geschichte der beiden Frauen wurde 1994 durch das Buch Aimée und Jaguar einem größeren Publikum bekannt.
Ein Vorschlag überzeugte die Bezirksverordneten besonders, vorgetragen von einer Anwohnerin: Die Lehrerin Betty Katz, geboren 1872 in Posen, kam 1926 nach dem Tod ihres Ehemannes nach Berlin, um die Leitung des Jüdischen Blindenheimes in der Steglitzer Wrangelstraße zu übernehmen. Bis zum Umzug nach Weißensee im Jahr 1941 wohnten und arbeiteten hier 50 Menschen. Im Haus befand sich eine Bürstenbinderei, später auch Korb- und Stuhlflechterei. Es gab Unterricht in Blindenschrift und einen Betsaal. Alle Bewohner wurden von den Nazis umgebracht, Betty Katz starb am 6. Juni 1944 im KZ Theresienstadt.
Die Treitschkestraße, argumentierte die Anwohnerin, sei geteilt in eine Bildungs- und eine Wohnseite: Auf der nördlichen Seite stehen ausschließlich Wohngebäude. Gegenüber finden sich Bildungseinrichtungen wie die Dunant-Grundschule und die Kopernikus-Oberschule, auch die Patmos-Gemeinde hat hier ihr Haus. „Das passt gut zur Pädagogin Katz“. Und, so die Anwohnerin weiter, sei ein Bezug zur August-Zeune-Schule als Bildungsort für blinde und sehbehinderte Kinder und Jugendliche gegeben. Als Jüdin und Frau sei Betty Katz ein würdiger Kontrapunkt zum Antisemiten Heinrich von Treitschke, der die Bildung von Frauen für verzichtbar hielt und wohl auch kein Anhänger inklusiver Schulen gewesen wäre.
Als der einflussreiche Gelehrte Heinrich von Treitschke seinen Satz „Die Juden sind unser Unglück“ formulierte, war Betty Katz sechs Jahre alt.
Der Kulturausschuss der BVV stimmte am 27. November nach kurzer Beratungspause für den Vorschlag, die Treitschkestraße in Betty-Katz-Straße umzubenennen. Die Parteien hatten ihre eigenen Vorschläge zugunsten des Anwohnerbeitrags zurückgezogen – mit ausdrücklichem Dank für die rege Beteiligung. Eine Stimmung allgemeiner Zufriedenheit machte sich breit unter den Anwesenden – mit einer Ausnahme:
Die CDU hatte sich an der Abstimmung nicht beteiligt, und auch zuvor nichts Konstruktives zur Diskussion beigetragen. Mehr noch: Keiner der CDU-Vertreter äußerte sich zu den vorgebrachten Ideen und Argumenten. Die Anwohner seien doch in einer früheren Befragung mehrheitlich gegen die Umbenennung gewesen. Das Design der jüngsten Anwohneransprache sei unklar und intransparent. Ob denn auch wirklich in jeden Briefkasten ein Aufruf zur Teilnahme gesteckt wurde? Schließlich: da es keinen Antrag zur Abstimmung gebe, sei das Verfahren fehlerhaft.
Letzteres ist wohl richtig. Deshalb hat die BVV auf Wunsch der CDU das Thema erneut in den Ausschuss verwiesen. Am Mittwoch haben die Christdemokraten nochmals die Gelegenheit, sich zu den wesentlichen Fragen zu äußern: Warum hat Heinrich von Treitschke eine (weitere) Ehrung im Berliner Straßenbild verdient? Gibt es eine Person, die an seiner statt geehrt werden soll und wenn ja, welche?
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Daniela von Treuenfels
Die Ausschusssitzung beginnt um 17.30 im Bürgersaal des Rathauses Zehlendorf. Zur Tagesordnung:
Tagesordnung – 24. öffentliche Sitzung des Ausschusses für Bildung und Kultur
Verwendete Quellen
https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_von_Treitschke
https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/zeitzeichen/heinrich-von-treitschke-100.html
https://www.dhm.de/lemo/kapitel/kaiserreich/antisemitismus/asstreit
https://www.muenchenwiki.de/wiki/Treitschkestra%C3%9Fe
https://www.hagalil.com/2010/01/treitschkestrasse/
https://e-government.hannover-stadt.de/lhhsimwebre.nsf/DS/15-0407-2008
https://ww1.heidelberg.de/buergerinfo/vo0050.asp?__kvonr=18830
https://www.nuernberg.de/internet/geoinformation/raumbezug.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stra%C3%9Fen_in_Essen-Frohnhausen
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